Schreierei in meiner Familie? Kenne ich das? Leider ja.
Haben Sie auch schon mal ein Brot falsch geschnitten? Oder das Lieblings-T-Shirt nach drei Tagen anziehen endlich mal gewaschen? Oder mitbekommen, wie der 3-Jährige immer genau mit dem Spielzeug spielen muss, mit dem der Bruder gerade spielt? Das Anstrengende an diesen Situationen finde ich, wenn sie mir unlogisch erscheinen. Ungerechtfertigt. Ich nicht verstehen kann, warum geht mein Kind jetzt so an die Decke? Und doch sind die Emotionen, die das Kind in dieser Situation erlebt, ganz real. Ganz unterschiedlich sind die Beweggründe, warum die Schreierei beginnt. Und je nach Alter und auch Situation sind sie unterschiedlich lang.
Wenn wir davon ausgehen, dass das Urbedürfnis eines jeden Menschen die bedingungslose Liebe ist und somit ein Gefühl des absoluten Angenommenseins, mit all seinen lieben und anstrengenden Seiten und Phasen, so zählt wohl das Aushalten eines Schreianfalls auch dazu. Doch gerade das Schreien, das emotionale Lautwerden, ist für viele von uns eine Herausforderung. Haben wir nicht gelernt, dass man leise zu sein hat, angepasst, höflich, …? Seine Emotionen einfach so zum Ausdruck zu bringen und das vielleicht sogar noch lautstark, scheint auf dieser Basis undenkbar. Und das gilt nicht nur für das trotzige Kleinkind, den Teenie, das gilt auch für den Partner, und manchmal auch schon für das Baby. Schnell entsteht dabei das Gefühl, wir würden in unseren Rollen als Mütter oder Väter versagen.
Denn, wenn wir alles richtig gemacht hätten, dann würde das gar nicht erst passieren. Dann würde das Kind nicht schreien müssen, dann wäre das Baby doch immer glücklich, dann sollte der Partner sich wirklich zusammenreißen, …
Selbst wenn ich es schaffe, die Schreierei nicht auf mich zu beziehen, wird mein Baby vielleicht trotzdem Stunden um Stunden schreien. Wird sich mein Kleinkind möglicherweise trotzdem am Spielplatz brüllend zu Boden schmeißen. Wird mich mein Teenie eventuell trotzdem anschreien, dass ich ihn nicht verstehe und die Türe vor der Nase zuknallen. Wird sich mein Partner trotzdem irgendwann nicht genug im Griff haben und die Emotionen mit voller Wucht an die Oberfläche lassen. Ist es doch einfach ein Ausdruck des momentanen Empfindens, eine Situation, in der die Emotionen überhandnehmen.
Aber es bleibt: Schreien ist trotzdem laut und unangenehm. Was also hilft?
Zuerst einmal hilft mir die Einsicht, dass Emotionen wichtig sind und Platz brauchen. Alle Emotionen sind okay und sollen ausgedrückt und ausgesprochen werden. Für Kinder ist es zusätzlich extrem wichtig, dass ihre Emotionen benannt werden, denn nur so lernen sie auch zu beschreiben, was sie fühlen.
Gerade explosive Emotionen, wie Wut oder Ärger, können entschärft werden, wenn sie auf ein Gegenüber mit Verständnis treffen: „Ich kann sehen, wie wütend du bist“ oder „Bist du traurig weil, …?“, nimmt nicht nur an, sondern beschreibt gleichzeitig das Gefühl, das dem Kind vielleicht unklar ist. Es trifft auf ein Gegenüber, das die Emotionalität aushält. Dass die Person, die in ihren Gefühlen so absolut verloren ist, annimmt und versucht zu verstehen, woher sie kommen. Die sich interessiert und nachfragt nach dem „Warum“ der Aufregung. Die in den Arm nimmt und Geborgenheit schenkt. Und egal, ob das Bedürfnis, das den Schreianfall ausgelöst hat, befriedigt wird oder nicht, zu wissen, dass es okay ist, sich gerade so zu fühlen, dass das Platz in der Beziehung hat, ist das Wertvolle.
Und wenn die starken Gefühle abgeklungen sind, das logisch denkende Großhirn sich wieder eingeschaltet hat, dann kann man besprechen, was auf der Verhaltensebene beim nächsten Mal anders ablaufen soll. Dann kann man konkrete Erwartungen an das Kind oder auch den Partner stellen. Dann kann man ergründen, was beim nächsten Mal in der Situation helfen würde.
Wenn also das Gegenüber das schafft, in einer Haltung der Ruhe aber Offenheit zur Akzeptanz des Anderen, dann ist schon viel gewonnen.
Reicht das alleine aus, um mit diesen Situationen der hohen Emotionalität umzugehen? Des Schreiens, des Wütens, des Weinens?
Möglicherweise nicht. Aber es stellt in jedem Fall einen Anfang dar. Denn was wünschen wir uns alle denn mehr, als einfach angenommen und geliebt zu sein, egal, welches Gesicht wir zeigen.