Wenn einer keine Lust hat

Sex ist das, was das Paar zum Paar macht. Alles andere können sie auch mit Freunden haben. Diese interessante Aussage macht Veronika Schmidt in ihrem Buch „Liebeslust“, das ich mit großem Interesse gelesen habe.
Die erotische Anziehungskraft ist in der Regel, gerade am Anfang einer Beziehung, der bestimmende Faktor. Schon eine Berührung kann eine Gefühlsexplosion auslösen und es ist schwer die Hände voneinander zu lassen.

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Am Anfang unserer Beziehung hatten wir beide fast immer Lust.

«Wenn Sie für jeden Geschlechtsverkehr in den ersten beiden Jahren der Beziehung eine Murmel in ein Glas tun«, so beschreibt der Humorist Eckart von Hirschhausen das Sex-Dilemma, »und ab dem dritten Jahr für jedes Mal wieder eine Murmel aus dem Glas entfernen, wird das Glas bei den meisten nicht mehr leer.« (Spiegel online 10.8.2014 „Immer jauchzend, nie betrübt“)

Gelegenheiten kann man organisieren, die Lust lässt sich nicht so einfach produzieren.

Auch meine Frau und ich haben die Anfänge unserer Beziehung ähnlich erlebt. Da hatten wir beide fast immer Lust und wenn es auch noch eine Gelegenheit gab, haben wir miteinander geschlafen. Mit Kindern, wachsenden beruflichen und anderen Herausforderungen hat die Frequenz natürlich abgenommen. Gelegenheiten kann man organisieren, die Lust lässt sich nicht so einfach produzieren. Besonders meine Frau war oft zu müde, fühlte sich von mir in ihren Aufgaben alleine gelassen und so haben wir, anstatt sich im Bett oder anderswo miteinander zu vergnügen, diskutiert. Das Unfaire an der Sache ist, dass Sex immer nur so oft passiert, wie der gewillt ist, der weniger Lust hat.

Die Identität als Frau ist sehr stark damit verknüpft begehrt zu werden.

Bis vor einigen Jahren war das der Klassiker: Mann, der nur das Eine im Kopf und Frau, die keine Lust hatte. In letzter Zeit haben wir immer mehr Paare getroffen, bei denen es umgekehrt ist und die Frauen darunter leiden, dass im Bett zu wenig läuft. Ist es für einen Mann in unserer Gesellschaft kein Problem sich über dieses Problem zu beklagen, fällt es einer Frau viel schwerer die Unlust ihres Mannes bei irgendeiner Gelegenheit anzusprechen. Ist doch die Identität als Frau sehr stark damit verknüpft begehrt zu werden.

Egal wer keine Lust hat, für beide ist das nicht lustig.

„Potent und immer bereit zu sein“ gehört ja quasi zum Mann-Sein dazu, hingegen gilt die Frau schnell als männerverschlingender Vamp, wenn sie mehr Lust auf Sex hat als der Mann. Zum Glück verlieren aber auch diese Mythen langsam an Bedeutung. Auf jeden Fall registriere ich die Zunahme an Artikeln in Frauenzeitschriften, die ihren Lesern Tipps geben, wie sie die Lust des Mannes wecken können.
Aber ganz egal bei welchem Geschlecht mehr oder weniger Lust vorhanden ist, für beide ist das nicht lustig. Bei einem „Begegnung in der Ehe“- Wochenende, das wir vor vielen Jahren besucht haben, wurde von den vortragenden Paaren offen darüber gesprochen. Das alleine war schon eine Offenbarung für mich. Ich wäre nie auf die Idee gekommen darüber nachzudenken, wie es mir geht, wenn ich von Johanna wieder einmal einen Korb bekommen habe. Geschweige denn, dass ich Worte dafür gehabt hätte, diese Gefühle meiner Frau mitzuteilen. Ich war halt sauer, habe mich umgedreht und mich beklagt. „Da liegt eine tolle Frau neben mir im Bett und ich hab nix davon.“
An diesem Eheseminar konnte ich nicht nur hören, wie es dem vortragenden Mann geht, wenn seine Frau nein sagt, sondern auch wie es seiner Frau dabei geht, wenn sie nein sagt.
Beim anschließenden Gespräch mit meiner Frau auf dem Hotelzimmer hatte ich einige schwerwiegende Aha-Erlebnisse. Ich erfuhr nicht nur, wie viel Druck meine fordernde Haltung und meine Vorwürfe meiner Frau machten, sondern auch, was ich an Rahmenbedingungen schaffen konnte, die ihrer Lust förderlich wären.

„Den ganzen Tag behandelt er mich eiskalt und am Abend soll ich die heiße Geliebte sein“

Einer Pflanze hilft es nicht, wenn man an ihr zieht um schneller zu wachsen. Aber man kann die rechten Rahmenbedingungen mit entsprechendem Dünger, Wasser und Licht schaffen, um gutes Gedeihen zu fördern.
Genauso ist es mit der Lust. „Den ganzen Tag behandelt er mich eiskalt und am Abend soll ich die heiße Geliebte sein“, beklagte sich einmal eine Frau.
Johanna wollte als ganze Person wahrgenommen, geliebt, beachtet und gesehen werden und nicht nur auf ihren Körper reduziert.
Unterstützung mit den Kindern und im Haushalt, ab und zu mal ein Anruf oder SMS während des Tages, das ihr signalisierte, dass sie mir wichtig ist, waren wie Dünger auf das Pflänzchen ihrer Lust. Und wenn ich mal ein kinderloses Wochenende zu Hause oder gar in einem schönen Hotel organisierte, staunte ich nur so, wie dieses Pflänzchen zu sprießen begann. Auch Zärtlichkeit und einfach nur zu kuscheln, ohne dass meine Frau Sorge haben musste, dass ich mehr wollte, förderten ihr Verlangen.

Kaum etwas törnt einen Mann mehr an als eine Frau, die scharf auf ihn ist.

Wenn es der Mann ist, der keine Lust hat, bin ich mangels Erfahrung kein kompetenter Ratgeber. Wenn Johanna mir durch entsprechende Zärtlichkeit oder schöne Nachtwäsche signalisierte, dass sie gerne mit mir schlafen möchte, war bei mir jegliche Müdigkeit verschwunden und ich dachte nur mehr an „das Eine.“ Kaum etwas törnt einen Mann mehr an als eine Frau, die scharf auf ihn ist. Das offene Gespräch darüber, was ihm und ihr hilft, sollte nicht überschätzt werden. Es sollte aber nicht im Bett, sondern bei anderer Gelegenheit, in aller Ruhe geführt werden. Sich die eigenen Gefühle bewusst machen, sie ohne den anderen dafür verantwortlich zu machen ausdrücken und Wünsche anstatt Forderungen formulieren, haben uns geholfen. Nach vielen Jahren des zähen Ringens, manchen guten, aber auch sehr schwierigen Gesprächen und auch gegenseitigen Briefen, sind wir heute nach 40 Jahren fast auf dem Gleichstand unserer gegenseitigen Lust.
Vor einigen Jahren haben wir eine Bestandsaufnahme unseres Sexlebens gemacht und mal ein Jahr lange mitgezählt. Wenn wir das auf die Jahre unserer Ehebeziehung hochrechnen, ist unser Glas schon leer.